Erstes Kapitel: Von der Eichel bis zum Baum
Mitten in einem lichten Wald stand ein uralter Eichbaum. Sein Stamm war so dick, dass ihn vier Männer mit ihren Armen nicht umspannen konnten. Dieser Eichbaum war zum Zeitpunkt der Geschichte bereits 800 Jahre alt. Er überlebte mehrere Kriege, viele Stürme und Unwetter. Er sah, wie sich das Land um ihn her veränderte. Sein Stamm war knorrig, die Rinde rau und faltig und die Krone weit ausladend. Die vielen Eicheln, die er jedes Jahr zur Erde regnen liess, versorgten die kleinen und die grossen Tiere des Waldes, sodass sie nur selten Hunger leiden mussten. Sein Hüter hatte diese sonnige und geschützte Lichtung inmitten des Waldes für ihn erwählt. Die Lichtung umstanden hochwachsende Fichten und rundliche Linden, Espen raschelten und die Birken liessen ihre weissen Stämme leuchten. Viele Vögel suchten seinen Schutz und nisteten in seinem Stamm, in seinen Astgabeln. Unter seiner Rinde knabberten kleine Raupen, die einmal farbige Schmetterlinge oder reinliche Fliegen werden wollten. Auch einige Glühwürmchen waren dabei, die im Sommer ihre kleinen Laternen in seinen Ästen entzündeten.
Das Abenteuer dieses wunderbaren Baumes begann damit, dass eines Tages sein Mutterbaum von einem gewaltigen Blitz getroffen wurde und noch in derselben Nacht sein Leben aufgab. Unser Baum war zu diesem Zeitpunkt eine von vielen Eicheln, die um ihren Mutterbaum herum im Erdreich lagen. Bevor die Mutter starb, liess sie einen warmen und wunderschönen Ton erklingen. Der Ton wurde von einem leisen Lied der beiden Wurzelwesen, die im Wurzelreich dieses Mutterbaumes lebten, aufgenommen und weitergetragen. Aus diesem einen Ton entstand ein Lied, welches die kleinen Eicheln ringsumher zum Leben erweckten. Die beiden Wurzelwesen, ein kleiner Wurzelmann und seine Frau, kamen aus ihrer Wurzelwohnung, gingen umher und sammelten einige der Eicheln ein. Diese trugen sie zurück in ihre Wurzelbehausung und wärmten sie, gaben ihnen Wurzelnahrung und sangen ihnen viele Lieder von der Sonne und dem Wind vor. Die anderen Eicheln liessen sie im Erdreich und sorgten für diese jeden Tag. So begannen schon bald die Eicheln grösser zu werden und kleine Wurzeltriebe brachen die Wurzelhaut entzwei. Die beiden Wurzelwesen legten die kleinen Eichwurzler in frische Walderde, die sie mit feinen Pflanzenfasern von Mutter Eichbaum nährten. Sie sangen jeden Tag weiter ihre Lieder. Doch nun sangen sie vom Grösserwerden, von Stärke und Kraft, vom Blau des Himmels, von singenden Vögeln. Nach einer kleinen Weile wuchsen aus jeder Eichel kleine Blätter und die Wurzeln gruben sich in die Erde. Da begannen Wurzelmann und Wurzelfrau ein neues Lied vom Wachwerden, von Liebe und Geborgenheit zu singen. Dieses Lied war so wundersam, dass es das Herz der kleinen Pflänzchen mit einer tiefen Liebe erfüllte und sie erwärmte.